27. Mai 2006 In By Kerstin Abraham Rede Für Stefanie Neumann zur Ausstellungseröffnung bei der Galerie Kruse in Flensburg, Mai 2006
geschrieben nach der Methode Nick Hornby mit einem Einblick und einem Ausblick
Pastor Traugott Giessen von Sylt sagt: Zufall ist was uns zufällt.
Das habe ich gerade gelesen und : Der Name Man Ray stehe für FREUDE,
SPIELEN, GENIESSEN.
Denn damit ich mich recht gut auf die heute hier zu absolvierenden einleitenden Worte vorbereiten könne, erhielt ich von Stefanie Neumann in mehreren Sendungen in regelmäßigen Abständen insgesamt:
2 Kladden( aus denen auch die beiden Sätze oben stammen
2 handgeschriebene Zettel ( einer weiß mit Liedtext, einer orange mit ein paar angefangenen Listen, z.B. Titel der Arbeiten, was alt und was neu ist, groß und klein, und verschiedene Farbsortierungen)
7 Fotos
3 E-mails
2 Briefe
2 Musikkassetten
3 CDs
So, könnte man meinen, überlässt sie in der Frage, was hier heute Abend zu sagen sei, nichts dem Zufall.
Ich habe alles gelesen + gehört, und mich bei der Beschäftigung Man Ray ( Freude, Spiel, Genuss ) recht nahe gefühlt.
Mein modernes Zeitmanagemant habe ich zuvor erst einmal draußen vor der Tür geparkt. Deshalb kann ich Ihnen von dem Vergnügen in Stefanie Neumanns private universal world zu wandeln und da heraus ihre Bildschöpfungen nach zu imaginieren, nur in äußerst verschlankter, zeitökonomischer und zudem subjektiver Fassung anbieten:
1.Einblick
Als Liste. Die wieder Listen enthält, hinter denen sich wieder Listen verbergen.
Liste der Christlichen Seefahrt
Liste der Kreuzworträtselwörter
Liste der Regenangelegenheiten
Liste der schönsten unhaltbaren Schwüre
List der HEROS ( Matrosen, kochende Männer, Leonard Cohen und Hans Albers, Skater mit Wollmützen, Bodygards, fantastische Liebhaber und ein halbnackter Helfer im Garten für Mama )
Kleiderliste
List von Küchenkram
Kinderreim-Liste
Liste der Jahrhunderterinnerungen ( Durchkämmen 3 Mark )
List der Lebensorte ( Kropp – London – Paris – Berlin, mit dem kleinen Einschub Kiel, dem wir unsere Bekanntschaft verdanken )
Liste der Essensfarben ( gelb wie Linsencurry )
Liste der ultimativen where to go Orte
Liste der Verbesserungen von Mitteleuropa
List der Liebesverhinderungen
Liste der Übermenschen ( Orang Utan, Gozilla, Monster, King Kong )
Liste der Seemannsbräute ( Vivianne Westwood, Björk, Hanna Höch, Lara Croft )
Liste der woanders wiedergefundenen Dinge ( Bademantelgürtel, Captain s Dinner )
Liste der Weisungen ( Öffne mir die Augen, Kleines )
Liste der Zauberformeln und Geheimschriften
Liste der Handgriffe und Fingerkniffe
Liste von der Suche nach Deutschlands anmutigstem Wort
Liste der Rastlosig- und Endlosigkeiten
… … …
In einer der Kladden nun befindet sich das von Stefanie Neumann durch Markierung als Liste aus der “Verbesserung von Mitteleuropa“ selektionierte Schlüsseldokument, das ich Ihnen jetzt vollständig zu Gehör bringen will :
1. Ausblick
Die Ereignisse in Paris am 26., 27., 28., und 29. Juli
Feueranbeter
Wolkenpumpen
behaarte Herzen
Nervenwaage
bi-yän lu, xüan wu s Niederschrift von der smaragdenen Felswand
Das Leben der galanten Damen
Himmelsatlas
Briefe an kleine Mädchen
Farewell my lovely London 1961
The little sister, N.Y. 1964
107 alphabetisch geordnete Comics als mächtiger rosa Block
Sprachgeist
Strategie im Reich der Wünsche
Geschichtsklitterung
Das Elektronenzephalogramm
Die Weiberherrschaft
Prometheus
Chintchin, A.J.
Leonardo und Blandine
Springinsfeld
Bewußtsein der Maschinen
Rotwelsch
Heaven and Hell
Sitte und Verbrechen bei den Naturvölkern, Wien o.J.
Das Schöne im Krankhaften
Zungenreden
Bimmel Bammel
Nothschrei
Himmlische Liebes-Küsse etc.
Der Grillenvertreiber
Josefine Mutzenbache
Die weibliche Blüte im Längsschnitt
oder das Ende der Satzbildung, 2006
Garantua und Pantagruel
Gotamo
Flash Gordon und die Utopie des 20. Jahrhunderts
Basic English, London 1932
Albion Moonlight
My gun is quick, N.Y. 1958
The Body Lovers, London 1967
Beiträge zur Ekstase, Basel 1968
Die Geheimnisse von Paris, Berlin o.J.
Himmel und Hölle, Zürich o.J.
Trachtenbrot
Der Schwärmer, Lüstling und Tyrann Johann
Warum kehrt Rätselmann zurück ? Weil er Hoffnung gibt ! Aber nichts ist gefährlicher, als ein bisschen Hoffnung, das außer Kontrolle gerät – heißt es in den „Hunger Games“ (Die Tribute von Panem) von Suzanne Collins. Aber ebenso gefährlich ist die neue Graphikserie von Stefanie Neumann. Sie infiziert den Betrachter mit Bildern, sie verbindet Gegenwartsbilder mit Vergangenheitstext, schafft eine Zeitbrücke und kommuniziert mit „Absent Friends“ (1).
Wenn Rätselmann den alt gedienten Rocker Neil Young gekannt hätte, dann wäre dessen Song „Don’t Let It Bring You Down“ zu einem seiner Leitsprüche, wenn nicht sogar zu seinem Lebensmotto geworden. Und man würde dieses Lebensmotto in seiner eigenen Registratur unter „Y“ wie „Young“ finden – und natürlich auch unter „D“ wie „Don’t“, und unter Satzanfänge bzw. „Liedanfänge und Liedzeilen“.
Wenn es ein ganz schräger Tag war, an dem er den Satz in einem Universum von Bedeutungsmeteoriten gefunden hätte, dann hätte er ein Eintrag unter „G“ – Register der letzten Buchstaben – und unter „22“ – Register der Länge der Wortausdrücke – vorgenommen. Rätselmann nutzt die Möglichkeit, diese Poesie der Doppeldeutigkeit mit seinen verklausulierten Registern, Listen und Aufzeichnungen mit kurzen Wortblöcken zu transportieren. Sie entfalten im Kontext von Neumanns bildlichen Überarbeitungen – wie etwa in dem Blatt „Holunder“ – ihre Poesie durch die Spannung mit den skripturalen Elementen von Rätselmanns „Schriftbilder“.
Rätselmann aka „DJ Opa Oben“ lieferte die ersten Eindrücke von Schrift für seine Enkelin Stefanie, war er doch der einzige Skripturale im Lebenskreis des Kindes, den sie jeden Tag mit einem Schreibgerät an einem Tisch sitzen sah. Dass diese Kombination von meditationsartigem Schreiben und der späteren Entdeckung des ausgefeilten Registratursystems zur Organisation der Welt aus Rätselmann den Superhelden machte, als welcher er heute gilt, ist nicht weiter verwunderlich.
Sieht man das Spektrum der Superhelden an, scheinen in der Unterhaltungsindustrie amerikanischer Prägung vor allem die Marvel-Heft-Helden wie der Silver Surfer, Superman, die Grüne Laterne oder Preacher zu dominieren. Dabei sind es – neben den körperlichen Besonderheiten – auch oft intellektuelle Fähigkeiten, mit denen die Helden brillieren.
Aber in den letzten Jahren werden diese ideellen Positionen immer mehr relativiert – und sogar negiert – durch Filme wie „Super“, einem Klempner und Flaschnern, der die Welt rettet, durch Superziegenmann, dessen Superkraft im Schlafen in abgestellten Autos besteht und Personen wie die „Watchmen“ (2) – mit Rohrschach und dem Comedian – die schon im Superheldenruhestand sind.
Schlägt man in Rätselmanns Registratur nach, findet man die Klassiker des Genres, rubriziert unter „Held“, „Superheld“ und „Hero“. Und natürlich hätte Rätselmann sich niemals selbst in dieses System eingetragen, aber es hätte ein schönes Graphikblatt abgeben können, das Neumanns neue Reihe „Thundergirl“ trefflich eingeleitet hätte. Bei alten Comics im Familienarchiv findet man auch eine Reihe alter Hefte mit den Geschichten von Superhelden. Sie erinnern an comichafte Bildwelten und schaffen hier eine weitere Gedankenbrücke zu den Arbeiten von Neumanns frühkindlichen Bildwelten.
Die Synchronisation der Bildwelten von Neumann mit dem Kosmos „Kreuzworträtsel“ als Ordnungssystem gibt einer ungeordneten Welt, wie sie aus persönlichem Erleben „Rätselmanns“ mit den Ereignissen des Ersten und Zweiten Weltkrieges verknüpft ist, einen neuen Rahmen, einen Ort, wo diese Geschichten nicht mehr gefährlich sind. Waffennamen, Kriegsschauplätze, Pflanzennamen und Landschaften – alles findet seinen Ort in der Registratur. Und alles findet seinen Weg zu den Bildern, zu den Namen und Bedeutungen und ihren Negationen in der Umgangssprache wie etwa in dem Blatt „Lusche“.
Auch wird hier ein Raster geboten, das die Einordnung sowohl der Wirklichkeits- als auch der abstrakten Begriffe erlaubt. Beziehungen zwischen den Dingen werden dabei ebenso berücksichtigt wie wissenschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Wortfelder. Dabei hat auch das Irrationale seinen Platz in dem literalen Kosmos gefunden, erfasst in dutzenden von handschriftlichen Kladden, in zahllosen, nahezu unüberschaubaren Wortregistern.
Diesen Spuren von Zusammenhängen und Bedeutungsnetzen kann man in den Kladden vom „Fabulous Rätselmann“ ebenso folgen wie in den Bildern seiner Enkelin Stefanie Neumann, die ebenso assoziative Netze in ihren Bildern knüpft, wie dies ihr Großvater in seinen Aufzeichnungen entworfen hat. Die Bildwerke nehmen die Worte, die Wortbruchstücke und Buchstaben, um von ihnen ausgehend den Texten eine neue Bedeutungsebene zu geben. Dabei nutzt Neumann in der Fortsetzung der Graphikserie „Rätselmann & Thundergirl“ die unterhaltsam erklärenden Bilderbögen des 19. Jahrhunderts ebenso wie Stahlstiche von Blumen und Vögeln aus naturwissenschaftlichen Kompendien des 19. und 20. Jahrhunderts. In den Hintergrund der Radierungen eingebetet, geht der Stahlstich des 19. Jahrhunderts mit der Stahlradierung des 21. Jahrhunderts einen Dialog ein – vermittelt durch die Worte und Zeichen von Rätselmann. Die Bildfindungen liefern ein Wechselspiel, von dem letztendlich ein Vexierspiel in den Augen und dem Gehirn des Betrachters intendiert ist.
Bildtitel wie „Eisbär“, „Himmel“, „Ahoi“ und „Geduld“ verweisen auf die sprachlichen Quellen und deuten gleichzeitig durch ihre Kürze und Prägnanz auf die symbolischen und metaphorischen Ebenen der Dinge. Gesucht wird die Komplexität in der Einfachheit – die Sinn spendet – und die Einfachheit in der Komplexität – die Hoffnung und Trost gibt, wenn man nicht alles versteht, die Reizüberflutung überhand nimmt. Das sind die Pole, zwischen denen die Superhelden bei Neumann oszillieren und vermitteln.
Und so ist auch die Verbindung zwischen Bildgestaltung von Neumann und Textgestaltung von Super-Rätselmann zu sehen. Hier knüpfen die Bildwerke der Reihe „Thundergirl“ an, scheinen auf die Reihe „Stories“ (2005) zu verweisen und gleichzeitig eine Brücke in das nächste Jahrzehnt zu schlagen. Verschiedene Rezeptionsangebote werden dem Betrachter gemacht, emotionaler als auch intellektueller Natur. Spuren und intelligente Netze kann man in den Graphiken finden, neue Beziehungen entdecken oder sich an einer differenzierten, aber trotzdem dingfixierten Reflexion der Welt erfreuen.
Welchen Weg der autonome Betrachter wählen möchte, bleibt allerdings immer ihm selbst überlassen. Die Autonomie der eigenen Reflexion und der eigenen Beziehungsnetze hat immer Priorität. Und um die Anspielungen auf Charles Baudelaire aufzugreifen, die man immer wieder in den neuen Graphiken findet, beendet ein Satz diese Anmerkungen, der sowohl einem Leser als auch einem Betrachter Anregung für eine erneute Rezeption sein soll. In den „Les Fleurs du Mal“ heißt es über ein Bild: „Was blieb von unsrer Küsse mächtigen Schauern, / von der Verzückung Rausch so stark und wild? / Ach meine arme Seele, du magst trauern! / Nichts blieb zurück, als ein verwischtes Bild“. Das gibt Hoffnung, Hoffnung für neue Bilder. Und Erinnerungen, die immer wieder nach Präzisierung streben, nach Repetieren und erneutem Rezipieren: „Guck die Bilder!“
Anmerkungen
1 »For Absent Friends«. Auf dem Album »Nursery Crime« von Genesis (1971).
2 »The Watchmen« (Die Wächter) aus dem Jahr 2009 von dem Regisseur Zack Snyder.