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»Kümmel«

Das Universum der Dinge, hier: Kümmel

Ich bin schuld. Wegen mir müssen sich Studierende der Muthesius ein halbes Jahr mit Kümmel herumschlagen. Kümmelndes ist das Thema, dass ich ihnen für den Gießener Töpfermarkt 2017  gegeben habe. Kümmel? Wie kommst du denn darauf?! Es ist, zugegebenermaßen, eine autokratische Entscheidung. Mußte sein, diesmal. Denn für mich ging es darum, ein Wort, einen Begriff zu finden, der sich ohne weiteres zu Bayern in Beziehung setzen läßt – aber den gerade aktuellen künstlerischen Auseinandersetzungen der Studierenden im Atelier möglichst fremd gegenübersteht. Denn wir folgen diesmal alle Bruno Labour und seinem“Parlament der Dinge“ indem wir zwei auf den ersten Blick völlig voneinander verschiedene Dinge willkürlich als Polaritäten setzen, zwischen denen sich eine Beziehung entwickelt. Hie sind das auf der einen Seite die Studioarbeiten jedes einzelnen Studierenden (verschieden) und Kümmel (für alle gleich) auf der anderen. Jeder muß nun für Dießen eine Arbeit entwickeln, die von beiden Polen herkommt. Alle haben einen Text für dieses Heft geschrieben, der diese Zusammenhänge erhellt und alle geben Einblicke in den Arbeitsprozess in der Innenseite der japanisch gefalteten Abbildung ihrer fertigen Arbeit.

Ich selbst habe mir als Gegenpole meiner Arbeit auf der einen Seite Kümmel (wie alle) und auf der anderen Seite Bruno Labour selbst auferlegt. Die beiden Recherche Quellen, die ich anschließend preisgebe, liegen in ihrer Niederschrift etwa 100 Jahre auseinander. Aus beiden Texten habe ich Wortsubstrate gewonnen, die, alphabetisch geordnet,, jeweils im Anschluß aufgezeichnet sind. Diese beiden Wortlisten sind das Material, aus dem meine Arbeit entstehen wird.

Weitere Materialien sind:

Steingutmasse, Pinsel, Stifte, Mikadostäbchen, Segelstoff, Wedding weiß/grau/schwarz, Fliesen von Golem und ein Schreibheft.

 

Meyers großes Konversationslexikon.

Ein Nachschlagwerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neu bearbeitete und vermehrte Auflage, Elfter Band. Kimpolung bis Kyzikos. Leipzig, Bibliographisches Institut, 1905.

Das ist die letzte, modernste, zeitgemäßeste Bearbeitung des führenden Kompendiums vor dem eersten Weltkrieges – auf dem Höhepunkt des »goldenen Zeitalters«, die Industrialisierung ist voll entfaltet und alles bisherige wissen über Kümmel ist der Frage, wie und wo einträglicher Anbau und guter Handel mit Kümmel gelingen kann, untergeordnet.

»Der Kümmel findet sich im mittleren bis nördlichen Europa bis zur Birkengrenze, in Südsibirien und im elburzgebirge, wächst auf guten, trockenen Wiesen und wird in Holland, bei Halle, Erfurt, Hamburg, Nürnberg, in Ostpreußen, Tirol, Norwegen, Schweden, Finnland, Russland auf Feldern kultiviert. Sein Anbau gehört zu den einträglichsten Kulturen.

Er fordert mürben, etwas bindigen, kalkhaltigen, warmen, trockenen Boden. Man sät ihn während der Baumblüte in 30 cm voneinander entfernten Reihen und sorgt dafür, daß die Pflanzen in den Reihen 15 cm voneinander entfernt stehen.. Man sät den K. Aber auch auf Gartenbeeten und verpflanzt ihn im Juli bei trübem Wetter auf den Acker. Im Herbst schneidet man das Kraut bis zum Herzblatt ab und verbraucht es zur Fütterung. Im folgenden Jahr blüht der Kümmel im Mai und muß geschnitten werden, sobald die oberste Dolde zu reifen beginnt und die übrigen grüne, entwickelte Früchte haben.  Man bindet ihn in kleine Bündel und trocknet diese auf dem Acker oder dem Hofe. Vgl. Handelspflanzen. Man baut den K. Aber auch zur Benutzung der Wurzeln, sät ihn dann stets auf dem Acker, stellt die pflanzen beim Jäten 20-25cm auseinander und erntet die wurzeln im Oktober, die dann ein der Pastinake ähnliches, aber nicht jedermann angenehmes Gemüse geben.

Der Kümmel leidet durch Mäuse, Kaninchen, Engerlinge und die larve des Pfeifers oder der Kümmelschabe (Depressaria nervosa).

Der Samen enthält viel ätherisches Öl, schmeckt beißend gewürzhaft und dient als Gewürz in der Bäckerei, Käsefabrikation und in der Küche, als Zugabe zu Mastfutter, zur Herstellung von ätherischem Öl und Likören, seltener als Arznei.Das Kümmelstroh dient als Schaffutter, zum einstreuen, als Brennmaterial und zum Besenbinden. Der Rückstand von der Destillation ist ein gutes Futtermittel. Es enthält 20-23,5% Rohprotein und 14-16% Fett.

Den besten Kümmel des Handels liefert Holland. 1886 führte Deutschland2.153.100 kg ein, davon aus Holland 1.978.500 kg.

K. Wurde schon im Altertum angebaut und als Gewürz benutzt,, er wird in der mittelalterlichen Arznei und in Destillierbüchern oft genannt und im 12.Jh. pries ihn die Äbtissin Hildegard als Arzneimittel. Auch in den deutschen Arzneibüchern des 12. Und 13.Jh. wird er erwähnt. In städtischen Spezereitaxen wird K. Zuerst 1304 in Brügge, dann in der Mitte des 15 Jh. In Danzig aufgeführt. Der römische Mutterkümmel stammt von Cuminum Cyminum (s. Cuminum).«

 

Reizwörter 1

Äbtissin, Acker, Altertum, Arzneibücher, Ätherisches Öl, Bäckerei, bei Holland, beißend, gewürzhaft, Benutzung, Besenbinden, bindig, Birkengrenze, Brennmaterial, Bündel, Destillation, Dolde, einträglichste Kulturen, Elburzgebirge, Engerlinge, Entfernung, Erfurt, Fett, Finnland,, Fütterung, Futtermittel, Gartenbeete, grüne entwickelte Früchte, Halle, Hamburg, Handelspflanzen, Herbst, Herzblatt, Hof Jahr, Jäten, Juli, Käsefabrikation, kalkhaltig, Kaninchen, Kraut, Küche, Kümmelschabe, Kümmelstroh, Larve des Pfeifers, Liköre, Mai, Mastfutter, Mäuse, Mitte, mürb, Mutterkümmel, nicht für jedermann angenehmes Gemüse, Norwegen, Nürnberg, Ostpreußen, Rohprotein, Rückstand, Russland,Schaffutter, Spezereitaxen, Schweden, Tirol, trocken, trübes Wetter, warm, Wiesen, Wurzeln

 

Labour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen/ Versuch einer symmetrischen Anthropologie,

Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2008 (das französische Original erschien 1997 in der Zeit, als man gerade dazu überging, Wissen nicht mehr im Lexikon, sondern im Internet nachzuschlagen. Die Kultur Industriegesellschaft hatte ein Ende gefunden und war, für viele Menschen schmerzhaft, von der postindustriellen Moderne abgelöst worden. Wer wissen will, ob das auch den Kümmel betroffen hat, mag den zugehörigen Artikel bei Wikipedia nachlesen. Da alle Studierenden zuerst bei Wiki nachgeschaut haben, waren sie sehr überrascht, als ich ihnen den Beitrag aus Meyers Lexikon 1906 vorlas. Er erzählt nicht nur über Kümmel. Ein Zeitdokument. Ich hätte diese zwei Artikel über Kümmel als Pole für meine Geschichte gut benutzen können, habe mich aber für Latour entschieden:

»Wenn die Lektüre der Tageszeitung das Gebet des modernen Menschen ist, dann betet heute bei der Lektüre dieses Gemenges ein seltsamer Mensch. Die ganze Kultur und die ganze Natur werden hier Tag für Tag neu zusammengebraut… Sobald die Fakten nicht den zugleich marginalen und geheiligten Platz einnehmen, den unsere Verehrung ihnen vorbehält, scheinen sie sofort auf rein lokale Kontingente oder dürftige Kunstbegriffe reduziert zu sein. Zeigt man den etablierten wissenschaftlichen Disziplinen irgend ein schönes soziotechnisches Netz, irgendwelche wunderbaren Übersetzungen, so werden die Epistomologen die Begriffe herausziehen und alle Wurzeln zum Sozialen oder zur Rhetorik abschneiden; die Sozialwissenschaftler werden die soziale und politische Dimension herausgreifen und sie von jedem Objekt säubern, die Semiologen schließlich werden aus unserer Arbeit Diskurs und Rhetorik übernehmen, aber von jedem unstatthaften Bezug zur Realität -horresco Referenz- und den Machtspielen reinigen. Das Ozonloch über unseren Köpfen, das moralische Gesetz in unserem Herzen und der autonome text mögen in den Augen unserer Kritiker zwar interessant sein, aber nur getrennt voneinander. Sobald ein feines Weberschiffchen Himmel, Industrie, Texte, Seelen und moralisches Gesetz miteinander verwebt, wird es unheimlich, unvorstellbar,unstatthaft.«

»Glauben wir weiter an die Wissenschaften…, nehmen wir sie in dem, was schon immer das interessanteste an ihnen war: ihrem Wagemut, ihrem Experimentieren, ihrer Ungewissheit, ihrer Hitze, ihrem ungebührlichen Mischen von Hybriden, ihrer wahnsinnigen Fähigkeit, das soziale Band neu zu knüpfen. … Die Naturen sind präsent, aber mit ihren Repräsentanten.«

 

Reizwörter 2

Arbeit, Augen, autonom, Band, Begriffe, Dimension, Diskurs, Disziplinen, dürftig, Experimente, Fakten, fein, Gebet, Gemenge, Gesetz, getrennt, Glauben, Herzen, Himmel, Hitze, heilig, Hybride, Industrie, Kontingente, Köpfe, Kritiker, Kultur, Kunstbegriffe, Lektüre, lokal, Machtspiele, Menschen, modern, moralisch, Natur, Netz, Objekt, Ozonloch, Platz, Realität, reduziert, Repräsentanten, Rhetorik, schön, Seelen, seltsam, soziotechnisch, Tageszeitung, Text,, Übersetzungen, ungebührlich, Ungewissheit, unheimlich, unser, unstatthaft, unvorstellbar, Verehrung, Wagemut, wahnsinnig, Weberschiffchen, Wissenschaften, wunderbar, Wurzeln, zusammengebraut.

 

Ich baue ein Spiel, den Kümmelkrieg.
Die Spielfiguren tragen Wortstandarten über das Spielfeld. Die regeln dafür erfinden die Spieler und schreiben sie in das Spielregelheft. Wann ist der Krieg vorbei? Und wer hat gewonnen?

Projekte

Lehre Hrsg. & Dissappear

Ort

Dießen am Ammersee

TeilnehmerInnen

Hyunjin Kim Annette Herbers Miriam Grabow Andres Enriquez Hyojung YunAnnika Meier Jinhwi Lee Kerstin Abraham

Date

7. Oktober 2017

Category

Academy Projects, Forschung, Künstlerische Forschung, Lehre, Publikationen